In der Literatur gibt es ein Genre, das sich „Uchronie“ nennt; es wird gemeinhin der Science-Fiction zugerechnet und behandelt die Frage „Was wäre geschehen, wenn“. Ausgangsszenario ist die reale Welt bis zu einem Punkt, an dem die echte und die erzählte Geschichte auseinandergehen. Dieser Punkt – fachwissenschaftlich Divergenzpunkt genannt – kann minimal sein, wie Zigarren, die nicht aus der Manteltasche fallen, oder aber monumental – Deutschland gewinnt den Ersten Weltkrieg. Dass dieses Genre unter Fußballfans nicht beliebter ist, wundert fast ein wenig, lebt der Anhänger doch eigentlich stets in einer Uchronie, oft nur mit minimalen Divergenzpunkten. So wie am Freitagabend in Dortmund, als sich die 15. Minute als ein solcher Punkt herausstellte.

In dieser Minute hatte der FCN nämlich seine beiden besten Torgelegenheiten, Zyniker möchten sagen – und sie lägen damit nicht sonderlich falsch – seine einzigen. Erst köpfte Tomas Pekhart aus nächster Nähe Roman Weidenfeller nach mustergültiger Flanke von Markus Feulner an, dann rettete der Dortmunder Schlussmann gegen den Nachschuss des Flankengebers mit einer hervorragenden Parade.

Der Autor einer „Uchronie“ könnte als an dieser Stelle nun den FCN ein Tor erzielen lassen und spekulieren, wie der BVB damit umgegangen wäre, von einem sensationellen Auswärtssieg bis zu einer Dortmunder Trotzreaktion, die in einem 6:1 endet, wäre alles erlaubt. Im Westfalenstadion hingegen nahm die Realität jenseits aller Uchronie ihren Lauf, drei Minuten nach den Großchancen für Pekhart und Feulner, ließ sich Timo Gebhart von Lukasz Piszczek überlaufen, stellte den polnischen Nationalverteidiger jedoch mit etwas Armeinsatz.

Diesen nahm der Dortmunder dankend an und sank darnieder, Schiedsrichter Weiner, nicht optimal positioniert, zeigte auf den Punkt. Blaszczykowski ließ sich nicht zweimal bitten und verwandelte. Derselbe Spieler nutzte drei Minuten später die Unordnung und Unkonzentriertheit der Nürnberger Abwehr, die sich aus dem unnötigen und unberechtigten Elfmeter zum 1:0 ergeben hatte, enteilte dem Deckungsverbund, weil sich Klose und Balitsch anstatt zum Polen orientieren, und schob souverän ein.

Der Rest der Partie ist eigentlich schnell erzählt und unter dem Begriff „träge“ gut zusammengefasst. Über weite Phase der nächsten siebzig Minuten passierte nämlich einfach nichts. Jürgen Klopp schob dies nach dem Spiel auf die ungewohnte und mutige Entscheidung des FCN nicht im Raum tief zu stehen, sondern quasi mit Manndeckung zu spielen, quasi eine Erweiterung der Hinspieltaktik, in der Mats Hummels von Tomas Pekhart manngedeckt komplett aus dem Spiel genommen worden war. Besonders hob der Meistertrainer die Defensivarbeit von Markus Feulner und Timo Gebhart hervor, welche die Außenverteidiger stets beackert hätten

Ein derartiges Lob wirkte für den außenstehenden Nürnberger befremdlich, erst recht nach Lewandowskis 3:0 kurz vor Schluss, das sowohl Raphael Schäfer als auch Michael Wiesinger nach dem Spiel sichtlich verärgerte. Zu sehr war die eigenen Mannschaft über 90 Minuten unterlegen gewesen, zu wenig war im Spiel nach vorne passiert, was Hoffnung machte. Möglicherweise die kleinen Dribblings von Hiroshi Kiyotake, die ansatzweise gefährlich wirkten, doch insgesamt war zu wenig Positives zu vermerken gewesen, als dass man Klopps Lob tatsächlich auf- und respektierend annehmen konnte.

Stattdessen blieb man etwas verwundert zurück, ob einer deutlichen Niederlage, die irgendwie am Anfang unglücklich und am Ende standesgemäß war. War das nun ein Zeichen einer stagnierenden oder gar rückwärtigen Entwicklung oder war es einfach nur eine normale Leistung gegen eine individuell einfach so viel bessere Mannschaft? Es überwiegt angesichts des Gesehenen sicher die Skepsis und die Hoffnung, dass es nicht neben manchen Uchronien am Ende der Saison eine Utopie benötigt.

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